Eldorado für die Wildkatze

Wildkatzen sind vorwiegend nachts aktiv. Aufnahmen einer Wildkamera dokumentieren ihr Vorkommen. Aber auch Jäger haben die Tiere bereits beobachtet. Fotos: Mike Bender

Mehrere Wildkatzen-Familien sind im Freigerichter Wald heimisch geworden.

Main-Kinzig-Kreis – Die Wildkatze ist beim Ausflug in den Wald an diesem Vormittag nur auf Bildern zu sehen. Revierförster Markus Betz zeigt Aufnahmen der Wildkameras mit Schnappschüssen aus den vergangenen zehn Jahren. Mehrere Wildkatzen-Familien sind in den letzten Jahren im Freigerichter Wald heimisch geworden. Betz hat einen Ausdruck einer aktuellen Karte mitgebracht, auf der das Senckenberg-Institut markiert hat, wo es Wildkatzen gibt. Das Institut untersucht die Vorkommen in Deutschland. Die ziehen sich in der Region durch den Spessart bis rüber nach Bayern. Vor ein paar Jahren waren es noch sehr viel weniger Punkte auf der Karte. Der Förster zeigt zum Vergleich eine Liste der Vorkommen aus dem Jahr 2016 von Hessen-Forst. Aktuell leben mindestens fünf Familien im Freigerichter Wald. Bei fünf Jungen pro Familie – manchmal auch mehr – sowie Kudern und Weibchen rechnet Betz mit bis zu 25 bis 30 Katzen insgesamt. „Damit haben wir hier im Revier mindestens das Vierfache dessen, was 2016 im ganzen Spessart nachgewiesen wurde.“

Sichtbare Nachweise gelingen in erste Linie über die Kamera. Aber es gibt auch Beobachtungen, zum Beispiel durch Jäger. Auch der Förster hatte einmal Glück. „Man muss Geduld haben und zum Teil auch Sitzfleisch.“ Denn die Wildkatze ist oft in den Nachtstunden unterwegs.

Das Senckenberg-Institut nutzt außerdem Haare für die Untersuchungen. Dafür wird ein Holzpflock mit Baldrian beträufelt – ein Lockstoff. Die Wildkatze reibt sich daran, die Haare bleiben kleben. Das erlaubt Rückschlüsse auf die Anzahl der Tiere und auf das Geschlecht.

Das „strukturreiche Gelände“ im Freigerichter Wald ist nach Angaben von Markus Betz für die Wildkatze ein idealer Lebensraum. „Vor 30 Jahren wären wir hier durch ganz andere Wälder gefahren.“ Aus dem einstigen Nadel- ist ein sattgrüner Mischwald geworden. Betz hat unter anderem Esskastanien und Kirschen gepflanzt, die sich inzwischen schon natürlich vermehren. In den ehemaligen Nadelholz-Gebieten kommt Grün von unten nach. „Diese Flächen sind heute um ein Vielfältiges arten- und strukturreicher als noch vor 30, 40 Jahren.“

Ein Mosaik aus alten und neuen Beständen, aus lichten und dichteren Stellen – das seien Faktoren, die die Artenvielfalt begünstigen, erläutert der Förster. Die Wildkatze fungiere dabei als Indikator: Wenn es ihr gut geht, geht es auch anderen Arten gut. Andere Bewohner des Waldes sind Waldschnepfen, Kolkraben, Uhu, Bechstein-Fledermäuse, zum Teil seltene geschützte Arten nach FFH-Richtlinie (Fauna-Flora-Habitat). „Wir können uns mit jedem Naturschutzgebiet messen.“

Wir halten an einer Stelle, an der die Wildkatze schon des Öfteren gesichtet wurde. Betz zeigt auf Wurzelteller und umgefallene Bäume. Diese „unaufgeräumten Strukturen“ sind gewollt. Sie dienen der Wildkatze als Versteck. „Dort hat sie Sicherheit.“ Hier kann sie Nester bauen. Wenn vorhanden, nutzt sie dafür auch Fuchs- oder Dachsbauten. Umgefallene Bäume, die im Wald querliegen, werden ebenfalls dort belassen, sofern sie keine Gefahr darstellen: als Balancierstange für die Wildkatze.

Gleich nebenan wiederum, auf einer lichteren Stelle, gehen die Katzen auf Mäusejagd. „Hier findet die Wildkatze einen reich gedeckten Tisch“, sagt Betz.

Die Tour führt weiter, den Hügel hinauf. „Hier sind wir mittendrin im Wildkatzen-Gebiet“, sagt der Förster, der diesen Abschnitt als „Eldorado“ für die Tiere bezeichnet. „Hier links, das ist keine Fläche, auf der dem Förster die Hand ausgerutscht ist.“ Dort hat der Sommersturm 2019 gewütet. Man sieht die Stümpfe, die noch stehen – für die Wildkatze ist das „ein prima Jagdgebiet“.

Auch abgebrochene oder abgestorbene Bäume und Totholz haben ihre Funktion. Betz zeigt auf einen Fichtenstumpf, der nicht weggehauen, sondern bewusst stehengelassen wurde: Er dient als Spechthöhle, als Quartier für Fledermäuse und holzbewohnende Insekten wie Wildbienen und Hornissen – ein Biotop für viele Arten. Wenn diese Bäume irgendwann umfallen, kommen sie wiederum der Wildkatze als Versteck zugute, wo sie ihre Jungen aufziehen kann.

In dem Gebiet, durch das die Tour an diesem Vormittag führt, leben mindestens drei Familien. Der ganze Gemeindewald sei mittlerweile Wildkatzen-Biotop. Dabei haben Betz und seine Kollegen gar nicht gezielt den Wald als Wildkatzen-Lebensraum umgebaut, kein spezielles Konzept dafür entwickelt. „Es ist bei uns eine Folge einer ökologischen, naturnahen Waldbewirtschaftung, dass wir diese Vorkommen haben und sie sich hier ausgebreitet und vermehrt hat.“

Eine verantwortungsvolle Waldbewirtschaftung steht für den Förster nicht im Widerspruch zum Naturschutz. Im Sinne der Nachhaltigkeit könne der nachwachsende Rohstoff Holz etwa für den Hausbau genutzt werden. „Man kann ja heute sogar Hochhäuser aus Holz bauen.“ Was nicht als Bauholz oder Möbelholz genutzt werden kann, wird als Energieholz vermarktet und ersetzt fossile Brennstoffe.

„Wenn man ökologisch arbeitet, muss man sich gar nicht so viele Gedanken machen über die eine Art oder die andere Art. Denn dann kommen in der Gänze eigentlich alle Arten auf ihre Kosten.“ Auch die Nutzung als Naherhohlungsgebiet vertrage sich mit der störungsempfindlichen Art, sofern die Spaziergänger, Radler und Jogger auf den Wegen bleiben. „Die Wildkatzen haben genügend Rückzugsräume.“

Das könnte sich womöglich bald ändern. Denn im Wald bei Neuses sollen Windkraftanlagen entstehen. In einem Bürgerentscheid Anfang Juli votierte die knappe Mehrheit dafür, die Planungen für den Bau fortzusetzen. Eine Bürgerinitiative hatte den Beschluss des Gemeindeparlaments rückgängig machen wollen – ohne Erfolg.

1281 Hektar Fläche hat der Freigerichter Wald, 85 Hektar sollen für Windräder fallen – Schilder der Gegner am Wegrand markieren die Standorte. Das Problem sind laut Betz die Zufahrten, für die eine Schneise in den Wald geschlagen werden müsste, weil die Wege nicht bereit genug seien. Damit werde auch Lebensraum der Wildkatze zerstört und die Funktion des Waldes als natürliche Klimaanlage beeinträchtigt. „Auch der Erholungswert des Spessartbogens wäre dahin, wenn hier diese Kraftwerke stünden.“ Betz ärgert sich, dass die Befürworter der Windkraft den Wald schlechtreden und sein Niedergang vorausgesagt wird, um den Kahlschlag ohne schlechtes Gewissen rechtfertigen zu können. „Wir haben auch Trockenheitsschäden“, räumt der Förster ein. „Aber wir sind eigentlich noch im gelobten Land.“ Im Vergleich zu Bildern aus dem Harz, dem Bayerischen Wald oder dem Reinhardswald „ist das hier gar nichts“.

Von Katrin Stassig

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