Es herrschen Orber Verhältnisse

Wahltag in Bad Orb: Am 26. September stimmen die Kurstädter nicht nur bei der Bundestagswahl ab, sie entscheiden auch über ihren Bürgermeister. Foto: Stephan Siemon

Man mag dieser Tage nach Bad Orb fahren, ohne zu wissen, dass dort am 26. September – zugleich mit der Bundestagswahl – der Bürgermeister gewählt wird. Aber wenn man die Stadt wieder verlässt, dann weiß man es. Überall sieht man die Plakate hängen, mit denen in diesem Jahr gleich vier Kandidaten um Stimmen werben.

Bad Orb – Der parteilose Amtsinhaber Roland Weiß möchte gern bleiben. Tobias Weisbecker (CDU), Ralf Meinerzag (Grüne) und Nicolai Rhein (Einzelbewerber) möchten ihn beerben. Weibliche Bewerber? Fehlanzeige. Vor Weiß saß von 2010 bis 2016 die parteilose Helga Uhl im Chefsessel der kurstädtischen Verwaltung. Eine Verwaltungsfachfrau, die ihre Aufgaben routiniert erledigte. Doch sie schien den Orbern wohl zu trocken, allzu pragmatisch, ja, zu langweilig, sodass diese Uhl im Herbst 2015 abwählten. Ein Ergebnis, das seinerzeit als Sensation zu gelten hatte: Die Bürgermeisterin setzte und vertraute auf den bekannten Amtsbonus, machte kaum Wahlkampf – und wurde vom unabhängigen Kandidaten Weiß überflügelt. Selbst langjährige Beobachter der kommunalpolitischen Szene in Orb hätten das nicht für möglich gehalten. Orber Verhältnisse.

Ganz auf Frauen-Power standen die Zeichen in Orb hingegen noch bei Helga Uhls Amtsantritt. Im November 2009 wurde die damals 38-Jährige mit überzeugenden 69 Prozent der Wählerstimmen Bürgermeisterin – der Gegenkandidat von der CDU blieb chancenlos.

Spannende politische Verhältnisse also in der Kurstadt. Beobachter wundern sich, dass gleich vier Bewerber ihren Hut in den Ring werfen. Denn dort Bürgermeister zu sein – das ist kein Spaß. Und das liegt an den berüchtigten Orber Verhältnissen. Wer dort die Stadtverordnetenversammlung besucht (der Eintritt ist übrigens frei, spannende Unterhaltung ist garantiert), der erlebt „Blut, Schweiß und Tränen“. Und dies im wörtlichen Sinne. Hier bleibt es nicht beim sachlich-politischen Schlagabtausch.

Hier wird mit allen Mitteln gerungen, der jeweils politisch Andersdenkende bekommt die Gegenmeinung in der Sitzung durch „persönliche Erklärungen“, und – wenn das noch nicht reicht – im Nachgang der Sitzung mitten in der Nacht per Facebook und WhatsApp um die Ohren gehauen.

Auch im Wahlkampf wird mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln gekämpft: Der Amtsinhaber beklagte jetzt, dass seine Plakate durch Überkleben verunstaltet werden. Der Aufkleber weist auf die Grünen hin. Der „Bäpper“ auf dem „Beweisfoto“ wirkt indessen so, als solle dieser Eindruck lediglich erweckt werden. Vom Amtsinhaber selbst, wie informierte Beobachter vermuten? Hat er sich das Ding mit „Word“ zusammengeschustert? Könnte durchaus sein. Ist es am Ende gar kein Wahlplakat, auf dem der „Bäpper“ hängt? Sondern nur ein ordinärer Flyer? Na, wo sind die Löcher für die Kabelbinder? Alles nicht so richtig überzeugend. Die Geschichte hat das Potenzial dazu, als „Poster-Gate“ in die politische Geschichte der Kurstadt einzugehen. Wer heute durch die Hauptstraße läuft und sich unter den Orbern umhört, der bekommt differenzierte Meinungen zum Kandidaten zu hören. „Ja, der Roland Weiß, der hat sich halt so durchgewurschtelt“, ist eine davon. Der Stadtumbau läuft, der Umbau des Salinenplatzes ist aktuell im Gange. Die Ansiedlung eines Hotels, immer mal wieder im Gespräch (und in der Presse), ist noch keine beschlossene Sache.

Chancen eingeräumt werden dem Kandidaten der CDU, Tobias Weisbecker. Er ist ein Ur-Orber. Er sitzt im Kreistag, und er gilt als Fraktionsgeschäftsführer als bestens vernetzt – ein „alter Hase“, der sicher auch weiß, an welchen Fäden man bei der hessischen Landesregierung ziehen muss, um einen Förder-Call oder Zuschüsse „an Land zu ziehen“.

Das zumindest glaubt (und sagt) er von sich. Die CDU hat bei der Wahl 37,5 Prozent der Stimmen eingesammelt, und der Kandidat wird auch auf die 18,8 Prozent jener Wähler hoffen, die sich für die FWG entschieden haben – die arbeitet aktuell mit der CDU zusammen.

Wird Weisbecker die Ära der parteilosen Bürgermeister beenden? Die begann 2010. Vorher saßen mit Wolfgang Storck und dem heute nahezu legendären Hugo Metzler (von 1986 bis 1998) Christdemokraten an der obersten Stelle im Rathaus.

Ein weiterer Aspirant mit satten Chancen auf die Stichwahl: Ralf Meinerzag. Denn neu am Start im Orber Stadtparlament sind die Grünen, die mit 23,2 Prozent und sozusagen einem „Donnerschlag“ in diesem Jahr erstmals ins Hohe Haus einmarschiert sind. Und da sollte auch gleich ein Bürgermeisterkandidat her. Er fand sich interessanterweise im Börsenexperten Ralf Meinerzag, Vor zweieinhalb Jahren zog dieser nach Bad Orb und bekundete schon im November 2020 – da war der grüne Ortsverband in Bad Orb noch Zukunftsmusik – seine Ambitionen, hier Bürgermeister werden zu wollen. Ältere Orber stehen der Sache misstrauisch gegenüber. Man hört Sätze wie: „Na, wenn der mit seiner E-Zigarette aus dem SUV steigt – ist das ein richtiger Grüner?“ Auf der anderen Seite hat sich der Finanzexperte in pragmatischer Weise jetzt mal die Toskana-Therme vorgenommen.

Er sagt: „Durch den Abschluss eines fragwürdigen Kreditvertrages zum Erwerb der Therme hat man sich auf eine ‘Zockerei’ mit Zinsen eingelassen, welches dazu führt, dass die Bad Orb Kur GmbH aktuell auf einem millionenschweren Verlust aus diesem Geschäft sitzt, sogar die Gefahr besteht, dass diese Insolvenz anmelden und eventuell sogar die Stadt als Bürge dafür geradestehen müsste.“ Das riecht zumindest nach einem Untersuchungsausschuss.

Aber auch der grüne Kandidat bleibt nicht vom Orber Wild-West-Wahlkampf verschont: Wie Meinerzag berichtet, wurde in der Nacht vom 24. August in der Orber Altstadt eines seiner Wahlplakate abgefackelt und in den Wendelinusbrunnen geworfen. „Das ist nicht nur einfache Sachbeschädigung, sondern Vandalismus und ein Angriff auf unsere Demokratie“, erklärt Meinerzag, ebenfalls nicht verlegen um dramatische Worte.

Der große Unbekannte: Nicolai Rhein. Ehemals Anzeigenleiter einer in Gelnhausen erscheinenden Tageszeitung, hat er jetzt seine Kandidatur als unabhängiger Kandidat im Rathaus abgegeben. Er stört sich im Moment an den aus seiner Sicht lauen Besucherzahlen in der Toskana-Therme und wünscht sich, die Einrichtung möge doch in der Zukunft wieder durch die Bad Orb Kur GmbH geführt werden.

VON STEPHAN SIEMON