Im Wartungsmodus

Alle 20 Jahre wird das Wasser des Kinzigstausees komplett abgelassen, damit die Staumauer einer intensiven technischen Inspektion unterzogen werden kann. Foto: Holger Hackendahl

Wo sonst der Blick über eine riesige Wasserfläche schweift, grünt und blüht es derzeit: Der Kinzigstausee liegt auf dem Trockenen. Das hat aber nichts mit akuter Wasserknappheit zu tun, sondern mit alle 20 Jahre anstehenden Inspektionsarbeiten.

Bad Soden-Salmünster – „Person in Zwangslage – Menschenleben in Gefahr“, lautete die Alarmierung, die die Feuerwehr Bad Soden-Salmünster unlängst an einem heißen Sommertag erreichte. Eine Frau steckte bis zur Hüfte im Schlamm des abgelassenen Kinzigstausees fest, im Arm ihren Hund Bruno.

Trotz Bauzaun und Hinweisschildern war die unbedarfte Person in den trockenen Stausee gelaufen. Doch unter der scheinbar harten Kruste ist es noch immer feucht und so versank die Gassigeherin immer weiter im Schlamm. Denn so trocken wie eines der größten Rückhaltebecken Hessens bei Bad Soden-Salmünster im Main-Kinzig-Kreis momentan scheint, ist es nicht. „Die Frau hatte echt Glück, dass ihre Hilferufe gehört wurden, ihr Ausflug war lebensgefährlich“, weiß Holger Scheffler, Geschäftsführer des Wasserverbands Kinzig.

Derzeit ist das Wasser des Kinzigstausees abgelassen. Denn es steht eine Sicherheitsüberprüfung an – alle 20 Jahre wird der 550 Meter lange und 14 Meter hohe Staudamm begutachtet. „Die maximale Einstauhöhe des Kinzigstausees, der aus der Kinzig, dem Steinaubach und dem Ulmbach gespeist wird, ist zwölf Meter. Der Winterstau liegt durchschnittlich bei 5,50 Meter und der Sommerstau bei 7,50 Meter Höhe“, weiß Scheffler.

Aktuell fließen deutlich weniger als 500 Liter pro Sekunde zu. Bei Hochwasser können das aber auch schnell mal zwischen 130 bis zu 200 Kubikmeter pro Sekunde sein, die in den Stausee einfließen. „Ausgelegt ist er sogar auf bis zu 400 Kubikmeter pro Sekunde, was einem zehnjährigen Hochwasser entspricht“, erläutert der Geschäftsführer des Wasserverbandes.

Im Zuge der Bewirtschaftung des Stausees reguliert der Wasserverband Kinzig Füllstände und Abflüsse, überprüft zudem laufend die Funktionstüchtigkeit und Sicherheit der Anlagen. Dazu gehört auch eine Turbinenanlage, die im Staudamm integriert ist und die bis zu 1,3 Megawattstunden Strom pro Jahr produziert. Durch die an die Niederschlagssituation angepasste Steuerung des Einstauvolumens ist der Kinzigstausee in der Nähe des Bad Soden-Salmünsterer Stadtteils Ahl für den Hochwasserschutz und die Mindestwasserführung der Kinzig unverzichtbar. „Die Sicherheit des 1988 in Betrieb genommenen Stauwerkes wird durch das Hessische Landesamt für Naturschutz und Geologie und das Regierungspräsidium Darmstadt überprüft“, weiß Scheffler. „Die letzte große Sicherheitsüberprüfung mit vollständiger Entleerung des Stausees fand 2002 statt, also ist es entsprechend des 20-Jahre-Rythmus in diesem Jahr wieder so weit“, unterstreicht Scheffler.

„Bisher dient das Rückhaltebecken nur dem Hochwasserschutz, doch zukünftig wollen wir aus der Rückhaltung auch Trinkwasser gewinnen“, verrät Scheffler. Entsprechende Entwurfsplanungen für das Projekt gebe es bereits. Auch eine zuverlässige Technik für eine umweltschonende Trinkwassergewinnung stehe bereit. „Ich habe mir eine Pilotanlage an der Henness-Talsperre angeschaut. 2024 planen wir hier mit dem Baubeginn, 2027 soll die Trinkwassergewinnung in Betrieb gehen“, erläutert Scheffler.

Dann, so die Vorstellungen der Experten, könnten aus dem in den Stausee eingeleiteten Oberflächenwasser bis zu neun Millionen Kubikmeter Trinkwasser jährlich produziert werden. 200 000 Menschen aus dem Main-Kinzig-Kreis und dem Rhein-Main-Gebiet sollen künftig mit dem in Zeiten von zunehmender Trockenheit immer kostbarer werdendem Nass versorgt werden, erläutert Scheffler. Als Zuzugsgebiet stelle die Trinkwasserversorgung auch für den Main-Kinzig-Kreis eine wachsende Herausforderung dar. „Künftig wird der Kinzigstausee im Hinblick auf den Klimawandel eine Hybridfunktion erfüllen“, so Scheffler, „zum einen mit Blick auf die Trinkwasserversorgung für die Region, zum anderen mit Blick auf den Hochwasserschutz angesichts der immer häufiger werdenden Starkregenereignisse.“

Doch der Stausee war auch bislang schon weitaus mehr als ein Sammelbecken für sehr starke Niederschläge wie sie beispielsweise vom 20. bis 22. Mai 2019 regional begrenzt bei Steinau und Schlüchtern niedergingen. „Der Boden war damals völlig trocken, der ganze Regen floss ab in das Rückhaltebecken“, erinnert sich Scheffler. Ohne diese riesige Auffangmöglichkeit wäre es wohl zu einem massiven Hochwasser in der Kinzig gekommen.

Im Zuge der Klimaveränderung sei mit immer öfter auftretenden, heftigen Niederschlägen in immer kürzeren Zeiträumen zu rechnen - auch in Jahreszeiten, in denen es bislang kaum Hochwasser gab, erläutert Scheffler. Auch die Schneeschmelze im nordwestlich gelegenen Vogelsberg könne Ursache für ein Kinzig-Hochwasser sein.

Der Stausee bei Ahl hat für die Region auch eine wichtige Funktion als Naherholungsgebiet. Er zieht nicht nur Angler an, die kapitale Fänge aus dem Wasser ziehen, ein Rundweg führt um den See, von dem sich derzeit allerdings völlig ungewohnte Blicke ergeben. Statt übers Wasser schweift das Auge über eine zunehmend grüner werdende Landschaft.

„Rund um den See gibt es einen sanften Tourismus, viel Naturschutz mit Vogelbeobachtungsplätzen und seit Kurzem auch einen pädagogischen Lehrpfad mit Schautafeln“, erläutert Scheffler. Auch Raststationen und Spielmöglichkeiten wurden unlängst angelegt.

Bevor das Wasser aus dem Stausee vor einigen Wochen gänzlich abgelassen wurde, wurde der See im Mai leergefischt. Kapitale Karpfen, große Hechte und viele Weißfische wurden mithilfe der Petri-Jünger des Birsteiner Angelsportvereins umgesiedelt. Dabei unterstützte Fischwirtschaftsmeister Peter Liebe mit seinem Team. Der Auftrag lautete, so viele Fische wie möglich zu retten und sie anschließend in speziellen Fischtransportwagen in Weiher bei Birstein (Vogelsberg) und bei einem Fischzüchter in Gersfeld (Rhön) umzusiedeln.

Bei der aufwendigen Aktion setzte der Berufsfischer aus Norddeutschland unter anderem ein rund 700 Meter langes Netz ein. „Die ganze Sache war nicht so einfach. So verfing sich das Netz mehrfach an eingeschwemmten Bäumen. Das Abfischen verzögerte sich daher um einige Tage“, berichtete Scheffler.

Insgesamt seien rund zwölf Tonnen Fische aus dem Kinzigstausee herausgezogen worden. Die größten Fänge, die ins Netz gingen, waren ein 32 Kilogramm schwerer Marmorkarpfen und ein Spiegelkarpfen mit 26 Kilogramm. „Wenn die Sanierung beendet und der Stausee wieder eine gewisse Wasserhöhe erreicht hat, sollen die meisten Fische wieder hierher zurückkehren“, heißt es vonseiten des Wasserverbandes.

Inzwischen hat die eigentliche Sicherheitsüberprüfung der Bauwerke und Anlagen begonnen. Holger Scheffler, der bereits bei der Revision vor 20 Jahren mit dabei war, rechnet mit keinen größeren Schäden an der Staumauer. Die wichtigsten Arbeiten seien die Erneuerung der den Wasserstand regulierenden Wehrklappen – sie müssen mitsamt der Hydraulik ausgetauscht werden.

Die Betonteile der Staumauer werden zudem nach Rissen abgesucht und behoben, Dichtungsfugen werden verfüllt und abgeplatzter Beton wird ausgebessert. Vier Millionen Euro sind für die bis zum Jahresende 2022 anstehenden Revisions- und Erneuerungsarbeiten veranschlagt.

VON HOLGER HACKENDAHL