Emotionale Momente in der Ukraine

Mehr als 500 Weihnachtsgeschenke für Kinder und Jugendliche wurden nach Lemberg gebracht.

Main-Kinzig-Kreis – Dass es die Schwächsten im Krieg immer am schwersten trifft, ist für Andre Kempel seit gut zwei Jahren keine Binsenweisheit mehr. Der Bruchköbeler Stadtpolizist hat bereits etliche Transporte von Hilfsgütern in die Ukraine unternommen. Die jüngste Tour, kurz vor Weihnachten, führte unter anderem mit mehr als 500 Weihnachtspäckchen zu zwei Kinderheimen in Lemberg.

Die Zustände dort haben Kempel sehr ergriffen, sodass für ihn feststeht: „Bei mindestens einem Heim müssen wir noch in diesem Jahr was tun, sei es mit Sachspenden oder dem Renovieren wenigstens eines Raums“.

Damit so viele festlich verpackte Boxen mit alters- und geschlechtsgerechten Inhalt aus Kleidungsstücken, Spielsachen und natürlich Naschzeug zusammenkommen, wurde Mitte November eine Sammelaktion gestartet, an der sich die Kommunen Bruchköbel, Erlensee, Nidderau, Brachtal, Flörsbachtal, Freigericht und Sinntal beteiligten. Mitgemacht haben ebenfalls Schülerinnen und Schüler der Hanauer Karl-Rehbein-Schule, so Kempel. Initiiert wurde die Sammlung von der Reservistenkameradschaft Hanau, dessen Vorsitzender Andre Kempel ist. „Seit Kriegsanfang in der Ukraine haben wir rund 60 Fahrten unternommen, mal mit Hilfsgütern, mal mit gespendeten Feuerwehrautos“, sagt er. Den Transporter stellt die Freiwillige Feuerwehr, das Geld für den Sprit spenden Privatleute, so auch diesmal.

Gleichwohl der 50-Jährige bei allen Touren dabei war, beschreibt er die Situation an der polnisch-ukrainischen Grenze immer noch als „surreal“. Ein Gewöhnungseffekt habe sich bei ihm nicht eingestellt. „Dort laufen die Grenzbeamten und Soldaten schwer bewaffnet mit Maschinengewehren herum und kontrollieren die Fahrzeuge“, sagt er. Ein beängstigender Anblick für einen Reservisten? „Es ist etwas ganz anderes. Nach dem Grenzübergang befindet man sich in einem Kriegsgebiet. Eine Woche nach unserer Abfahrt ist in der Nähe eine Rakete eingeschlagen“, antwortet Kempel.

Die rund 80 Kilometer von der Grenze entfernte Metropole Lemberg (ukrainisch: Lwiw) sei von schweren Angriffen der Russen weitgehend verschont geblieben. Der Krieg sei dennoch in der 760 000 Einwohner großen Stadt allgegenwärtig. Darüber könne auch das größtenteils normal ablaufende Leben mit Vergnügen und Unterhaltung am Abend oder Wochenende nicht hinwegtäuschen, so Kempel.

„Am ersten Tag nach der knapp 23-stündigen Fahrt führte uns der Leiter der Feuerwehr Lemberg zu gespendeten Fahrzeugen aus dem Main-Kinzig-Kreis, um zu zeigen, wo sie nun stehen und wie sie eingesetzt werden“, berichtet Kempel. Solche Kontrollen müssten sein, ebenso wie die lückenlose Dokumentation mit Bild oder Unterschrift von Güterlieferungen in Städten nahe der Frontlinie wie Saporischja, Charkiw und Donezk, wohin diesmal ebenso ein Teil der Lieferung ging. Dort sei es für Ausländer zu gefährlich. Die Hilfsgüter müssten deshalb von zuverlässigen Ortskräften oder Institutionen zu den Bedürftigen gebracht werden. Für Kempel und seine Mitstreiter ist es die Feuerwehr. Die Regierung habe zwar der Korruption den Kampf angesagt, aber deswegen sei sie noch lange nicht Geschichte, so Kempel.

„Ganz emotional wurde es tags darauf beim Besuch der beiden Kinderheime, in denen 160 bis 200 Mädchen und Jungen leben.“ Es seien Waisen und Kinder, deren Eltern überfordert sind. In den sogenannten Internaten lebten zudem Kinder mit Down-Syndrom und psychischer Erkrankung. „Kinder, die allein mit einem Flüchtlingstreck ziehen, werden auch aufgenommen. In solchen Fällen sind die Eltern und Verwandte im Krieg umgekommen“, berichtet Kempel. Ungeachtet der schwierigen Bedingungen sei das Personal sehr engagiert, niemand habe die Schützlinge mit Kriegsbeginn in Stich gelassen. Offenkundig wurden sie jedoch vom Staat vergessen – und das nicht erst mit dem Angriff von Russland. „Die Räumlichkeiten der Heime schienen noch unverändert aus der Sowjet-Zeit zu stammen“, glaubt Kempel.

„Es gab einen sehr herzlichen Empfang. Vor unserer Bescherung sagten die Kinder Gedichte auf und führten Tänze vor. Besonders ergreifend waren die gemalten Bilder, die uns geschenkt wurden“, sagt Kempel. Anders als in den Zeichnungen von Gleichaltrigen hierzulande seien die Motive nicht Häuser, Wiesen, fröhliche Personen und die Sonne, sondern Eindrücke des Kriegs in vielen Facetten. „Ein Bild zeigt zwei ineinandergreifende Hände, darüber die ukrainische und deutsche Fahne und darunter ein Panzer.“

Auch wenn es in Lemberg weniger Einschläge gebe, gehörten Alarme und Luftschutzübungen zum Alltag. Das grabe sich in die Seele der Kinder ein.

Der Krieg sei ebenso mit dem Soldatenfriedhof in der Stadt spürbar. „Beim Anblick von Hunderten Gräbern kamen einem die Tränen und man muss sich unweigerlich fragen, warum“, sagt Kempel. Die Menschen zeigten dennoch einen ungebrochenen Verteidigungswillen. Es sei schon zu viel passiert, um für den Frieden auch nur einen Teil des Landes herzugeben, erfuhr Kempel von einer Sanitäterin, der ein voll ausgestatteter Erste-Hilfe-Rucksack übergeben wurde, mit dem sie kurz darauf wieder ins Kampfgebiet zog.

Von Detlef Sundermann

Weitere Artikelbilder