„Unser Rechtsstaat ist nicht gut aufgestellt“

Erich Pipa

Seit Juni 2017 ist Erich Pipa (SPD) im Ruhestand, aus den öffentlichen politischen Diskussionen hat sich der ehemalige Landrat des Main-Kinzig-Kreises seitdem meist rausgehalten.

Main-Kinzig – Doch die rassistischen Morde in Hanau haben auch ihn tief bewegt, der 71-Jährige macht sich Gedanken über die Zukunft der Gesellschaft. Und er meldet sich wieder zu Wort, auf verschiedenen Veranstaltungen in den nächsten Wochen - und in diesem Interview.

Herr Pipa, neun erschossene Menschen in Hanau, davor die Schüsse auf den Eritreer in Wächtersbach, nicht zu vergessen die jahrelangen Bedrohungen gegen Sie: Was passiert hier gerade mitten unter uns?

Erich Pipa: „Die jahrelange Hetze in den sozialen Medien gegen Ausländer, Journalisten, Politiker, Bürger, die sich ehrenamtlich betätigen, zeigt Wirkung. Zudem haben wir eine Partei in den Parlamenten, die fremdenfeindlich geprägt ist. Aus Worten folgen dann Taten. Unser Rechtsstaat ist nicht gut aufgestellt, es fehlen Polizisten, Richter, Staatsanwälte.“

Ist das nur ein subjektiver Eindruck oder ist Rassismus und Rechtsextremismus im Main-Kinzig-Kreis besonders stark ausgeprägt?

Pipa: „Rassismus und Rechtsextremismus gibt es überall in der Bundesrepublik, ja, auch in Europa und weltweit. Leider auch im Main-Kinzig-Kreis.“

Viele Bürger sind unzufrieden und fühlen sich vom Staat allein gelassen.

Pipa: „Wir leben in einem tollen Land. Die Wirtschaft ist gut aufgestellt, die Arbeitslosenquote ist relativ gering, es gab in den vergangenen Jahren Lohnzuwächse. Aber die beiden Volksparteien sind heute keine Volksparteien mehr. Unsere Gesellschaft triftet auseinander, die Bürgerinnen und Bürger sind unzufrieden, weil die Politik die Probleme nicht löst. Es wird verwaltet und nicht gestaltet. Wir haben den höchsten Billiglohnsektor in Europa. In den Luxemburg liegt der Mindestlohn über 12 Euro, in Frankreich und England höher als bei uns. Das Soziale in unserer sozialen Marktwirtschaft bekommt Kratzer, viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich ausgegrenzt. In 10 Jahren werden mindestens 70 Prozent der jetzt hier tätigen Ärzte in Ruhestand gehen. Schon jetzt ist in vielen ländlichen Regionen die ärztliche Versorgung angespannt. Alle 16 Bundesländer haben in den letzten Jahren die Studienplätze für Humanmedizin abgebaut, 1990 hatten wir 16.000 Studienplätze, jetzt nur noch 9.000. Die Auswirkungen für uns alle sind verheerend. In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat der Staat die Investitionen zurückgeschraubt. Die Ergebnisse sehen wir heute, kaputte Straßen, marode Brücken, marode Schienen, Schwimmbäder wurden geschlossen. Planungskapazitäten bei den Behörden wurden abgebaut. Das ist das Ergebnis der Politik, man hat leider nicht in die Zukunft investiert. Natürlich kann man auch eine andere Politik machen. Ich glaube aber nicht mehr daran. Ich sehe in Berlin keine Mehrheiten, um umzusteuern.“

Den Main-Kinzig-Kreis haben Sie jahrzehntelang politisch geprägt. Wie würden Sie hier jetzt reagieren?

Pipa: „Wenn Sie die Morde in Hanau meinen, hätte ich mir gewünscht, dass der Kreis Veranstaltungen in Maintal, Gelnhausen und Schlüchtern mit den demokratischen Parteien, allen Religionsgemeinschaften, Vertretern der Kultur, des Sport und den Sozialverbänden nach dem Motto ‚Wir sind die Bürgergesellschaft, wir halten zusammen, keiner wird ausgegrenzt’ organisiert hätte. Den rechten Terror nur in einer Kreistagssitzung anzusprechen, ist mir zu wenig.“

Sie haben auch bei Ihrem Abschied gesagt, dass Sie sich aus der Politik raushalten und nur in ganz besonderen Situationen zu Wort melden werden. Wäre es jetzt nicht dringend notwendig, sich angesichts Ihrer Erfahrung und Ihrem Pragmatismus wieder mehr in das aktuelle Geschehen einzumischen?

Pipa: „Jetzt machen Sie aber der Kreisspitze und der GroKo Angst. Ich stehe nicht mehr auf Kreisebene aktiv in politischer Verantwortung. Als Bürger habe ich aber in den vergangenen Tagen einige Veranstaltungen begleitet und deutlich meine Meinung gesagt. Ich habe auch im April und Mai schon Termine zugesagt, wo es um gesellschaftliche Verantwortung geht.“

Von Andreas Ziegert