Demokratie wagen / Von Helmut Müller Ei Gude, wie?

Helmut Müller

Vor 50 Jahren, genauer gesagt am 21. Oktober 1969, wurde Willy Brandt zum vierten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Er wurde am 18. Dezember 1913 in Lübeck geboren, damals noch als Herbert Frahm. Der Deckname Willy Brandt entstand erstmals 1934 in Norwegen und 1947 wurde er zu seinem offiziellen Namen.

Anfang der 30er Jahre war Herbert Frahm in der SPD und der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) tätig. Als Hitler an die Macht kam, wurde Brandt gezwungen, nach Norwegen zu fliehen, denn die Richtlinien von SAP waren der Ideologie der Nationalsozialisten entgegengesetzt. In Oslo arbeitete er als Korrespondent für die norwegischen Zeitungen und setzte seine politische Tätigkeit fort. Er verstarb am 8. Oktober 1992 in Unkel.

Den Wechsel hin zu einer sozialliberalen Koalition unter einem sozialdemokratischen Kanzler war der erste Machtwechsel in der Bundesrepublik und den koppelte Willy Brandt mit jener Ankündigung, die aus seiner Regierungserklärung hervorstach: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Ja, die Regierungserklärung von Willy Brandt am 28. Oktober 1969 war visionär. Seine Worte: „Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger. Wir haben so wenig Bedarf an blinder Zustimmung, wie unser Volk Bedarf hat an gespreizter Würde und hoheitsvoller Distanz. Wir sind keine Erwählten. Wir sind Gewählte. Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren haben manche befürchtet, die zweite deutsche Demokratie werde den Weg der ersten gehen. Ich habe dies nie geglaubt. Ich glaube dies heute weniger denn je. Nein: Wir stehen nicht am Ende der Demokratie, wir fangen erst richtig an.“ Das hat natürlich nicht allen gefallen. Für mich war und ist Willy Brandt ein deutscher Patriot. Knapp vier Wochen nach Willy Brandts Antrittsrede unterzeichnete seine Regierung den Atomwaffensperrvertrag. Für Franz-Josef Strauß ein „Versailles von kosmischen Ausmaßen“. Anfang Dezember 1969 begannen die ersten Gespräche über einen deutsch-sowjetischen Gewaltverzicht in Moskau. Anfang Februar in Warschau Verhandlungen über einen Grenz- und Gewaltverzichtsvertrag mit Polen. Im Sommer 1970 Vertragsunterzeichnung in Moskau, im Dezember in Warschau, verbunden mit der historischen Geste, dem Kniefall Brandts vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos. Innerhalb eines Jahres hatte die neue Regierung die immer noch gepflegte, wenngleich illusionäre Hoffnung auf eine Wiedergewinnung der ehemaligen deutschen Ostgebiete begraben und gleichzeitig den Grundstein für den Mauerfall am 9. November 1989 und die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 gelegt. Am 10. Dezember 1971 wurde ihm der Friedensnobelpreis verliehen. Hoch verdient, wie ich finde. „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts“, so Willy Brandt in seiner Rede zum 100-jährigen Bestehen des Verlages J.H.W. Dietz Nachf., Bonn, am 3. November 1981. Ei Gude, wie!