„Es muss gerechter werden“

Susanne Simmler (SPD)

In den vergangenen sechs Monaten hat der Main-Kinzig-Kreis rund 6000 Menschen aus der Ukraine aufgenommen. „Das ist einmal Neuberg“, fasst es die Erste Kreisbeigeordnete Susanne Simmler im Gespräch mit unserer Zeitung zusammen.

Main-Kinzig-Kreis – Es war ein Kraftakt, der nahezu geräuschlos über die Bühne ging, weil über die Hälfte der Geflüchteten privat unterkam. Andere fanden Obdach in Notunterkünften und Gemeinschaftseinrichtungen im Kreis. In Hanau-Mittelbuchen, Birstein, Langenselbold und Wächtersbach wurden Hallen für rund 700 Menschen umfunktioniert, andernorts Pensionen und leer stehende Hotels angemietet. Lediglich Bruchköbel wurde geräumt und die Halle in Birstein zwischenzeitlich in einen Standby-Modus gesetzt; Letztere wird aufgrund veränderter Bedingungen nun wieder belegt.

„Im Frühsommer haben wir gesagt, dass wir die Hallen nach den Herbstferien wieder freigeben für die Vereine und Schulen“, sagt Simmler. Aber die aktuellen Entwicklungen lassen Zweifel an diesem Wunsch aufkommen.

Jüngst flatterte dem Main-Kinzig-Kreis Post ins Haus. In dem Schreiben des Landes, das unserer Zeitung vorliegt, heißt es: „Seit Mitte Juli beobachten wir einen deutlich erhöhten Zugang mit wöchentlich über 1000 neu ankommenden Asylsuchenden in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen. […] In der Folge ist die Belegung in wenigen Wochen auf nun über 7000 Personen angestiegen. […] Daher muss in den kommenden Wochen der Umfang der wöchentlichen Zuweisung von aktuell 400 bis 580 Personen auf rund 800 bis 1000 Personen erhöht werden.“

Für den Main-Kinzig-Kreis heißt das: 150 statt bisher höchstens 100 aufzunehmende Personen pro Woche. Denn – und das ist in der Öffentlichkeit bisher kein Thema – nicht nur die Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine steigt seit Kriegsbeginn immer weiter an, seit Sommer kommen auch wieder mehr Asylbewerber aus anderen Ländern: Syrien, Afghanistan, Iran, Irak und der Türkei zum Beispiel.

Nach ihrer Zeit in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes, deren gut 7500 Plätze Ende September fast voll belegt waren, werden Asylbewerber nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel vom Regierungspräsidium Darmstadt an die kreisfreien Städte und Landkreise zugewiesen. Und hier liegt das Problem: Die Prognosen des Landes (im dritten Quartal 2022 wurde von 5000 Menschen ausgegangen, tatsächlich kamen 13 000 nach Hessen) sind ungenau und die Verteilung schwierig, man könnte auch sagen ungerecht. So wird der Main-Kinzig-Kreis mit seinen 423 000 Bewohnerinnen und Bewohnern in der Berechnung mit der Stadt Frankfurt gleichgestellt, was die Anzahl der aufzunehmenden Menschen betrifft, gefolgt vom Landkreis Offenbach, der etwa die Hälfte aufnehmen muss.

Das Problem: Städte wie Frankfurt, Wiesbaden, Darmstadt und Offenbach müssen im dritten Quartal keine Flüchtlinge aufnehmen, weil beispielsweise der Ausländeranteil ohnehin schon hoch ist oder sie im Frühjahr Standorte für Notunterkünfte des Landes waren. „Diese Notunterkünfte wurden alle geschlossen bis auf den Standort Alsfeld, der derzeit leer steht, nur die Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen ist noch in Betrieb“, erklärt Susanne Simmler. Gemeinsam mit der Kreisspitze fordert sie nicht nur eine Ad-hoc-Änderung des Verteilsystems („Es muss gerechter werden.“), sondern sieht Hessen auch in der Pflicht, selbst wieder mehr Unterbringung zu organisieren. „Wir haben das Landesaufnahmegesetz, und Hessen muss jetzt seine Verantwortung übernehmen und Notunterkünfte öffnen, bis wir vor Ort Vorsorge getroffen haben“, so die Erste Kreisbeigeordnete.

Die Kritik geht direkt an die Landesregierung. Diese beklage immer wieder, so Simmler, nicht in Entscheidungsfindungen des Bundes einbezogen zu werden, pflege aber auch keine Kommunikation mit der kommunalen Ebene. „Stattdessen bekommen wir am Freitagnachmittag einfach nur einen Brief, in dem es heißt, dass sich die Zahl der Menschen, die wir ab Oktober aufnehmen müssen, wöchentlich verdoppelt.“

Ein weiterer Kritikpunkt an die Adresse des Landes dreht sich um die Finanzen. Der Bund hat Anfang 2022 zwei Milliarden Euro an die Länder gegeben, zweckgebunden zur Weitergabe an die Städte und Gemeinden für die Flüchtlingsunterbringung. Hessen habe 150 Millionen Euro erhalten, aber nur 38 Millionen seien weitergeben worden. „Sieben bis acht Prozent davon fließen an den Main-Kinzig-Kreis“, so Simmler. Die große Frage: Was macht Hessen mit der Differenz? Und warum werde auf Bundesebene nicht eine gleichmäßige Verteilung angemahnt? Simmler: „Nur neun von 16 Ländern nehmen Menschen auf. Aber eigentlich sollte sich bei dem Thema doch niemand aus der Verantwortung nehmen.“

Silvio Franke-Kißner, Leiter des Amtes für Sicherheit, Ordnung, Migration und Integration, bemängelt ebenfalls die Kommunikation mit dem Land Hessen. „Wir bekommen erst mit ein paar Tagen Vorlauf die Information, wer zu uns kommt.“ Schwangere Frauen, alte Menschen im Rollstuhl, eine Familie mit zwei Kindern mit Behinderung: „Die können wir doch nicht standardmäßig in einer Turnhalle unterbringen.“

Franke-Kißner und seine Kollegen puzzeln jede Woche wieder neu, dabei wird es immer schwieriger, an der politisch gewollten dezentralen Unterbringung festzuhalten. Um die Kapazitäten schnell zu erhöhen, plant der Kreis, Leichtbauhallen und Container-Lösungen zu errichten, mittel- und langfristig sollen Bauprojekte folgen – viele an der Zahl werden es letztlich nicht werden, denn die von den Kommunen angebotenen Flächen und die verfügbaren mobilen Unterkünfte sind rar.

„Trotz aller Schwierigkeiten sind es am Ende Menschen, die zu uns kommen“, sagt Susanne Simmler, „und wir haben die Pflicht, ihnen zu helfen.“

VON Y. BACKHAUS-ARNOLD